SELBST als Ort

Ich bin mein eigenes Haus

2011:Dec // Sam Rose

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12-2011
















Nicht erst seitdem deutsche Finanzdienstleister intensive Werbekampagnen geschaltet haben, die zu „gesundem“ Egoismus aufriefen („Mein Haus, mein Auto, mein Boot“, oder: „Unterm Strich zähl ich“), stellt sich die Frage nach dem Erlebniskern von Personen und ihrem Weltzugang neu. Vergessen scheinen die poststrukturalistischen Theorien, die die Einheit unserer Selbste in Frage stellten, und es wird uns suggeriert, dass wir zum Ego geronnene Images erzeugen müssten, um erfolgreich zu sein.
Vergessen auch sind intellektuelle Lieblingstheorien, wie der Tod des Autors, die spätromantischen Ideen des Ichs als Anderen, die polymorphen, dekonstruierten Körper oder die zum Sprachspiel erklärten „Ego-Dispositive“ etc. Der Einzelne im neoliberalen Geschäfts- und Kulturklima ist der Agent seines eigenen Fortkommens in der Immanenz und reklamiert einen Materialismus, der sofort wieder zusammenbricht, wenn das Subjekt selbst Gegenstand materialer Untersuchung wird. Denn gerade versucht einem die Hirnforschung diese Konzepte von „Agency“ auszutreiben und stellt die, unsere Rechtstaatlichkeit verbürgende, Idee des freien Willens soweit in Frage, dass diese darunter zusammenzuklappen droht, sollte sich diese Form von Menschenbild und Weltsicht durchsetzen.

Das eben schon angesprochene Konzept der Freiheit, das untrennbar mit dem, des es ausübenden Subjekts verbunden ist, gerät in der Folge unter Druck. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen systemisch, denn die Kontrolle über alle Weltprozesse (und damit auch individuelle Entscheidungen) wird zunehmend von virtuellen Systemen formatiert, die alleine die Handlungsoptionen vorgeben. Mit anderen Worten: Die Räume, in denen wir uns bewegen, sind durch Systeme prädefiniert, die stärkeren Zugriff auf uns haben als jedes gesellschaftliche Modell bisher. Mit noch anderen Worten: der Service ist die absolute Grenze der Freiheit im Alltag. Zum zweiten auch individuell, denn die Art und Weise, wie Freiheit im Kontext westlicher Gesellschaften wahrgenommen wird, ist die Entlassung aus vormals normativen Regelsystemen religiösen oder gesellschaftlichen Ursprungs. Die metaphysische Krise, in einem anderen Jahrhundert wurde das auch mal als Unbehaustheit bezeichnet, ist nach wie vor eklatant, auch wenn man alles tut, sich (in der Immanenz) fortwährend (neue) Strukturen zu schaffen, die eine gewisse Verhaftung des Einzelnen erlauben. Zugehörigkeit zu subkulturellen Strömungen wirkt genauso stabilisierend, wie religiotische Refundamentalisierungen – freiwillig gibt man Handlungsoptionen an „soziale“ Netzwerke ab und bekommt im Gegenzug post-metaphysische Existenzabsicherung (inklusive Wertesystem und Orientierungshilfen).

Man sieht also, dass der Ort, an dem wir Individuen uns täglich tummeln, äußerst umkämpft ist. Das „Ich“ oder „Ego“, oder wie man das auch immer mal genannt hat, bleibt weiterhin der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden – wie bewusst oder unbewusst auch immer. Es ist ein entscheidender Ort, den wir uns kulturell erkämpft haben und der heute in Frage steht, wie seit langem nicht mehr. Es ist ein Ort, den wir verteidigen müssen, um „Agency“, also die Möglichkeit, Prozesse zu beeinflussen, zu behalten. Man kann so weit gehen und den Ort des Einzelnen, den ideosynkratischen Ort, den Ort, der nicht identisch sein muss, dass man diesen Ort als einen der Resistance verstehen kann. Der Ort an dem die Rechnung meist nicht aufgeht, kann aber auch als einer verstanden werden, von dem aus neue Perspektiven entwickelt werden können. Wie dem auch sei – dieser Ort ist der einzige, den wir als Einzelne wirklich haben. Jede weitere Zugehörigkeit ist nachgeordnet und kommt als Entscheidung aus diesem Ort, der ICH bin.

Wo aber wird das verhandelt? Wer kümmert sich um dieses $ema? – Man sollte denken, dass die Kunst ein Raum ist, in dem das stattfinden könnte. Denn immer noch ist Kunst etwas, das normalerweise von einzelnen Personen ausgeübt wird. Man kann Kunst also als Vorschlag eines Einzelnen an eine Kommunikationsgemeinschaft verstehen, zum Zwecke der symbolischen Überkodierung genau der Konstitution dessen, was man Kultur nennen kann. Der einzelne Protagonist in der Kunstwelt hat ja im Vergleich mit anderen Welten einen wesentlich höheren Stellenwert (was übrigens ein Grund ist, warum Big Ego aus der Finanzwelt sich so angezogen fühlt). Dass das nicht thematisch wird, hat wahrscheinlich den Grund, dass die zugrunde liegende Fragilität nicht benannt werden soll und damit die eigene finanzielle Basis problematisch wird. Die notwendigen diffizilen Vermittlungen, die dort vorgenommen werden müssen, werden jedenfalls ausgeblendet und es wird entweder auf kollektive (oder je nach Couleur auch kollektivistische) Problemstellungen fokussiert. Es gibt genug Beispiele aus den 90er Jahren, als dass hier noch ein Zitatbeweis angetreten werden müsste. Oder es wird die Position eines Künstlers, einer Künstlerin in einem vorvereinbarten Konflikt, der außerhalb der Kunstwelt stattfindet, so verortet, dass er/sie in der Manier alter Sozialfolklore den Freiheitskämpfer geben kann, wie gegenwärtig Ai Weiwei.

Wie es auch immer ist, ist man auf der richtigen Seite und hat kein Risiko eingegangen. Aber noch mal: Der Kulturkampf, der am Ort, an dem man als Mensch Entscheidungen treffen kann, der Ort an dem man selber ist, geführt wird, ist eine der spannendsten Situationen heute überhaupt. Wenn man diesen Ort als Künstler anders versteht, als einen Ort an dem hauptsächlich Kulturmarken wertsteigernd geschaffen werden können, sondern als einen Ort durch den die verschiedenen gesellschaftlichen, politischen, religiösen, welt anschaulichen, ökonomischen, ökologischen, psychologischen etc. Energien fließen. Wenn man diesen Ort als einen medialen Ort versteht und das Selbst im besten Sinne als Medium all dieser Energien, dann kann man anfangen miteinander zu reden.
Zuweilen aber steht man auch mal unrasiert und ohne Hose da.

THE - SELBST (Berliner Porträt), 2011 (© Thomas Eller)
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